Ein Jahrhundert Armbanduhren: 1900 – 2000 (Buch von Schütze)
In diesem Buch bescheibt der erfahrene Uhrmachermeister Alwin Schütze die Entwicklung der Armbanduhr. Dabei bezog er sich überwiegend auf die sogenannte Normaluhr, die der größte Teil der Bevölkerung trug. Die technologisch oft vorauseilenden Sonderleistungen des Hochpreisbereiches erwähnt er, doch nahm er sie nicht als Maßstab.
Die Armbanduhr wurde zum Beginn des 20. Jahrhunderts durch die sozialen und technischen Entwicklungen benötigt oder vielleicht sogar erzwungen. Um das verständlich zu machen, fügte Schütze zum Beginn jeder Dekade eine Übersicht der politischen und kulturellen Entwicklung ein, wie auch Warenpreise, Löhne und Renten. Dem folgt jeweils eine Übersicht zu den damaligen Firmenentwicklungen, dem sich viele Einzelbeschreibungen anschlossen. So wird diese Erarbeitung zugleich ein Geschichtsbuch der Uhrentechnologie, aber auch der Gesellschaft, in der sich die Armbanduhr im Laufe dieses Jahrhunderts ausbreitete.
Während des 20. Jahrhunderts erwuchsen aus einer kleingewerblichen Uhrenfertigung schnell Industrien, die noch lange auf das traditionelle Gewerbe der Uhrmacher als verlängerte Werkbank und später als Servicehandwerker angewiesen blieben, bis sie Fertigprodukte für einen internationalen Markt produzierten, deren Verkaufspreis heute wenigen Minuten Arbeitszeit einer Servicewerkstatt entsprechen. Eine neue Uhr, mit oft besseren Nutzungseigenschaften, wurde preiswerter als eine traditionelle handwerkliche Serviceleistung. Folglich war die Entwicklung der Armbanduhr unmittelbar mit den möglichen Leistungen der ortsansässigen Uhrmacher verbunden. Deren Leistungen und Veränderungen innerhalb ihres Handwerkes werden ebenfalls beschrieben.
Da es selbstverständlich wurde, die Auskunftsmöglichkeiten des Internets zu nutzen, hat Schütze alle Wortbegriffe zu Uhrenproduzenten oder maßgeblichen Persönlichkeiten in kursiv halbfett gesetzt, damit der interessierte Leser aufgefordert wird, sich dazu im Internet weitere Auskünfte einzuholen.
Aus der 50-jährigen Berufserfahrung Schützes gehen viele Gedanken und Ansätze zum Verständnis der Entwicklung ein, die in solch persönlicher Art ungewöhnlich sind. Damit macht er das Verstehen von selbsterlebter und ihm kollegial vermittelter Geschichte in zugleich einmaliger, wie auch ungewohnt aufklärender Art möglich.
Seine Begeisterung zur Uhrenentwicklung wirkt ansteckend, wie auch seine Zuversicht zur Fortentwicklung seines Uhrmacherstandes.
Rezension von Dr. Bernhard Huber, DGC.e. V.
Liest man den Titel des vorliegenden Werks, denkt man, darüber ist doch schon genug geschrieben worden. Schaut man dann ins Buch, ist man verblüfft über den völlig neuen Ansatz und das gelungene Ergebnis. Für den Verlag Historische Uhrenbücher mit unserem Mitglied Michael Stern als stets überaus rührigem Motor ist es die erste Neuerscheinung im Jahr 2022. Es handelt sich allerdings nicht um ein „historisches“ Uhrenbuch. Sein erst im letzten Jahr verstorbener Verfasser war ein Urberliner, der sich als Multitalent in vielen Bereichen betätigte. Er war gelernter Uhrmacher, Künstler und ehemaliger Berufsschullehrer für Uhrmacher, Graveure und Goldschmiede und langjähriger Kollege von Michael Stern. Bereits 2010 hatte er Michael Stern das Manuskript (ursprünglich 700 Seiten!) zu seinem Buch übergeben. Erst nach seinem Tod hat es nun Michael Stern für seinen Freund als Hommage mit sehr viel Aufwand komplett neu layoutet und auch die schlechte Qualität der Fotos soweit möglich zu verbessern versucht. Wermutstropfen beim Lesen sind allerdings bei der Konversion verbliebene Druckfehler.
Der Siegeszug der Armbanduhr als Zeitmesser wurde ab Beginn des 20. Jahrhunderts durch soziale und technische Entwicklungen begünstigt. Um diesen Kontext verständlich zu machen, gliedert der Verfasser sein Werk in 10 Kapitel für jeweils eine Dekade. Anders als bei den üblichen Armbanduhrbüchern legt Alwin Schütze großen Wert darauf, die Entwicklung der Armbanduhr mit dem politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Umfeld der jeweiligen Dekade kaleidoskopartig zu einem spannenden Ganzen zu verknüpfen. Zu diesem Zweck beginnt jedes Kapitel mit Abschnitten über die maßgebenden politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, künstlerische und kulturelle Ansätze, Preise und Kosten sowie kennzeichnende Tendenzen bei der Armbanduhrenfertigung. Hier wird jeweils die kommerzielle Entwicklung der Uhrenfirmen und ihrer Uhrenmarken im betrachteten Zeitraum kommentiert. Danach folgen zeittypische uhrentechnische Themen. Da findet man Exkurse über das „Abhören“ einer Uhr, einen Vergleich von Zylinder- und Ankerhemmung, etwas über Uhrenöl, Stoßsicherungen, modische Verglasungen, LED- und LCD Armbanduhren usw.
Der Verfasser untersucht überwiegend die Hersteller gängiger Gebrauchsuhren, die der größte Teil der Bevölkerung trug. Die technologisch oft vorauseilenden Sonderleistungen des Hochpreisbereiches erwähnt er zwar, doch nahm er sie nicht als Maßstab. Für die 30er Jahre werden z.B. folgende Themen behandelt: Umbruch in Handwerk und Handel, Chronographen, frühe Digitaluhrwerke, der Kordelanstoß, goldene Damenuhren der Zeit, Baguetteuhren, Damen und Herrengebrauchsuhren oder die Problematik der wasserdichten Uhr.
Das Buch bietet eine riesige Fülle interessanter Details, die der Autor mit großem Fleiß zusammengetragen hat. Sie ergeben ein lebendiges Bild der jeweiligen Dekade. Beispielhaft ein kurzer Auszug für die Periode 1900-1910: „Der überwiegende Teil aller Waren wurde vor Ort handwerklich erstellt und noch kaum als Fertigware in Schaufenstern oder Katalogen angeboten…. Zeitungen und Wochenjournale waren die wichtigsten Informationsmedien… Meinungen von Vorgesetzen, Meistern, Pfarrern oder Vereinskameraden hatten eine langanhaltende und zumeist nicht widersprochene Wirkung, weshalb sich Neuerungen nur langsam umsetzten“. Dann bei Preisen und Kosten: 1905 kosteten im Deutschen Reich: 1kg Butter 2,46 RM, 1 kg Fleisch, 1,55 RM; 1 Ei 0,05 RM, 10kg Kartoffeln, 0,65 RM. Eine Fahrt in der ersten Berliner Omnibuslinie kostete 0,15 RM. Das mittlere Jahreseinkommen eines deutschen Arbeiters betrug 894 RM und die durchschnittliche Tagesarbeitszeit 10 Stunden. Bei den Neuigkeiten zu Uhrenfirmen in dieser Epoche finden sich Einträge zu Oris, Ingersoll, Cartier, Omega, Audemars Piguet und natürlich auch Rolex.
Noch lange war im 20. Jahrhundert die aufstrebende Uhrenindustrie auf das traditionelle Gewerbe der Uhrmacher als verlängerte Werkbank und später als Servicehandwerker angewiesen. Das änderte sich aber, als Uhren am Fließband für einen internationalen Markt produziert werden konnten. Deren Verkaufspreise entsprechen heute wenigen Minuten Arbeitszeit einer Servicewerkstatt. Eine neue Uhr, mit oft besseren Nutzungseigenschaften, wurde damit preiswerter als eine traditionelle handwerkliche Serviceleistung. Diese Entwicklung der Armbanduhr hatte somit unmittelbare Folgen für die Leistungen und Serviceangebote der ortsansässigen Uhrmacher und brachte weitreichende Veränderungen für das Handwerk.
Zusammenfassend liegt hier aus der persönlichen Sicht eines Berliner Uhrmachermeisters und Fachlehrers für das vergangene Jahrhundert eine gelungene Übersicht für Fachleute und ein Nachschlagewerk für Sammler und historisch Interessierte vor, das um ein ausführliches Glossar ergänzt ist. Das Buch ist anschaulich geschrieben, liest sich gut und die vielen Facetten, die es bietet, machen die Lektüre dieses einmaligen Werks zu einem Vergnügen.